2018/04/10

40 Jahre EIS AM STIEL (Eskimo Limon) - Interview mit Filmhistoriker und Publizist Martin Hentschel

40 Jahre EIS AM STIEL ("Eskimo Limon")

Interview mit Filmhistoriker und Publizist MARTIN HENTSCHEL zum Mythos und popkulturellen Phänomen "Eis am Stiel"

Welche Faszination geht von den „Eis am Stiel“-Filmen aus?

Martin Hentschel: In meiner Vorstellung waren das früher Filme, die nur Erwachsene sehen durften, umso größer war der Reiz, sie zu Gesicht zu bekommen. Für viele Heranwachsende wie mich war „Eis am Stiel” in der Pre-Internet-Ära DIE Möglichkeit, nackte Haut zu sehen, ohne sich ins Sexkino schleichen zu müssen. Erst im Laufe der Zeit begriff ich, welch große Bedeutung diese Filme kulturhistorisch hatten. Sie sind ein Teil der Popkultur und ich persönlich kenne Niemanden, der nicht Irgendetwas mit dieser Filmreihe assoziiert.
Sie sind 1984 geboren. Wann kamen sie mit den „Eis am Stiel“-Filmen in Berührung?
Martin Hentschel: Das war Anfang der 1990er Jahre, als die Filme noch auf dem Privatsender RTL-Plus liefen. Ich war wirklich noch sehr jung, als ich die Filme sah. Als sie dann 1993 auf (dem inzwischen umbenannten) RTL und 1997 auf VOX wiederholt wurden, begann ich in dieser Zeit auch mit meiner „Eis am Stiel“-Sammlung, die ich damals auf Flohmärkten und in Kaufhäusern aufstockte. Als dann Anfang 2000 Amazon und Ebay dazukamen, wuchs meine Sammlung bis heute ins Unermessliche. VHS-Kassetten, Pressehefte, Autogramme, Fotos, Soundtracks, Poster, Werbematerial, Requisiten, Produktionsunterlagen, Einzelstücke und so weiter. Die Dinge stammen von überall: Israel, Japan, USA, Frankreich, Italien, Korea, Spanien, Finnland, Schweden, Mexiko, Deutschland … Ich kann behaupten, die weltweit größte „Eis am Stiel“-Sammlung zu besitzen.
Sie haben 2016 mit "Zitroneneis, Sex & Rock'n Roll" auch ein Sachbuch über den Mythos „Eis am Stiel“ veröffentlicht. Wie kam es dazu?
Martin Hentschel: Die Idee, ein Sachbuch über „Eis am Stiel“ zu schreiben, schlummerte schon einige Jahre zuvor in mir. Die Entscheidung, mit der Arbeit daran zu beginnen, hatte ich, nachdem ich damals wieder einen dieser unzähligen schlecht-recherchierten Artikel zu den Filmen in den Gossip-Medien gelesen hatte. Nach dem Motto „Was machen die Stars aus ,Eis am Stiel‘ heute?“ oder „Unglaublich! Das ist aus den Schauspielern geworden!“ Diese Artikel, die meist online zu finden sind, sind nicht nur grässlich recherchiert, sondern auch zu 99 Prozent voller falscher Infos. Da wird behauptet, Schauspieler Yiftach Katzur („Benny“) hätte 1997 das letzte Mal vor der Kamera gestanden, obwohl er regelmäßig in israelischen TV-Serien, unter anderem für den Disney Channel, zu sehen ist. Wenn man als Journalist seine Infos natürlich nur aus einem oberflächlichen Blick auf Wikipedia zieht, muss man sich nicht wundern, wenn solche Ergüsse dabei herauskommen. 
Wie sind sie die Recherche angegangen? 
Martin Hentschel: Mein Vorteil war natürlich meine über Jahre zusammengestellte umfangreiche Sammlung. Bei der eigentlichen Recherche bediente ich mich größtenteils bei alten israelischen Zeitungsartikeln (danke an dieser Stelle an Moshe Yitzhak für die Übersetzungen!) und internen Dokumenten. Ich führte außerdem Gespräche mit Zeitzeugen, die Teil dieser Filmreihe waren, etwa Schauspieler, oder Menschen hinter der Kamera. An dieser Stelle auch ein großes Dankeschön an Uwe Huber, der mir erlaubte, zwei hervorragende Interviews mit den Hauptdarstellern exklusiv abzudrucken. Die größte Herausforderung bestand – wie meistens bei meinen Büchern – darin, die Leute aufzuspüren und zu überzeugen, auf eine Zeitreise zu gehen. Denn solche Erinnerungen können manchmal natürlich auch schmerzlich sein. Die Schwierigkeit war nicht etwa, die israelischen Schauspieler aufzutreiben, sondern kurioserweise die Deutschen, denn „Eis am Stiel“ war ab dem zweiten Teil eine deutsche Ko-Produktion, deswegen baute man deutsche Schauspieler ein.
Wie zufrieden sind sie mit dem Werk?
Martin Hentschel: Ich bin mit dem Werk in seiner Gesamtheit sehr zufrieden. Besonders die vielen Geschichten über Gerichtsprozesse, Streitigkeiten und Dramen haben bei der Recherche viel Spaß gemacht. Jedoch war nicht alles nur Tragödie hinter den Kulissen. Viele Biografien beteiligter Personen vor und hinter der Kamera verliefen überaus positiv. Die deutschen Hauptdarstellerinnen Sissi Liebold (Eis am Stiel 7 + 8) und Stefanie Petsch (Eis am Stiel 5) arbeiten heute beispielsweise erfolgreich als Management-Coaches, Schauspielerin Petra Morzé (Hauptdarstellerin in Eis am Steil 6) ist heute Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, Kameramann Adam Greenberg wurde für „Terminator 2“ mit dem „Oscar“ nominiert, Regisseur Boaz Davidson und Ko-Produzent Danny Dimbort gingen nach Hollywood und sind bis heute mit Filmen wie „The Expendables“, „Rambo“ oder „Olympus Has Fallen“ erfolgreich.
Foto: Verleih (Universum Film / MGM / Park Circus)

Manche Schauspieler lassen heute kein gutes Haar mehr an der Serie. Von Ausbeutung und Stigmatisierung ist die Rede. Zachi Noy sagte kürzlich, er empfand ständig Scham bei den Dreharbeiten. Ist die Kritik gerechtfertigt?
Immer wenn ich Statements des Schauspielers Zachi Noy in der Presse lese, entnehme ich den Kontext „ich wurde reingelegt“. Egal ob „Das Supertalent“, bei dem sich Zachi als Sänger in Lederhosen blamierte und ausgebuht wurde oder „Promi Big Brother“, als Zachi als eine der ersten Personen das Haus verlassen musste, nachdem er u.a. in die Dusche pinkelte und seinen Urin mit dem Handtuch einer Mitbewohnerin wegwischte und in der Gunst der Zuschauer fiel, waren immer andere – z.B. die Sender – Schuld. In einem neuen Dokumentarfilm erzählt Herr Noy sinngemäß, wie hart es doch war, immer der Prügelknabe der Filmcrew gewesen zu sein und ständig nackt vor der Kamera agieren zu müssen. Ich kann nicht in die Köpfe der Menschen schauen, aber objektiv betrachtet war es doch sein freier Wille. Der gute Mann war bei dem ersten Teil immerhin schon Mitte 20, also nicht mehr ganz so naiv und jugendlich. Und er zeigte bis zu Teil 7 (1987!) seinen nackten Hintern (Stichwort: Kaktus) in den „Eis am Stiel“-Filmen. Erst in Teil 8 (1988) konnte er sich durchsetzen, seine Klamotten anzulassen. Man muss dabei beachten, dass Noy eine Art „Ziehsohn“ des Münchener Produzenten Sam Waynberg war und dieser Zachis Karriere bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu pushen versuchte. Noy ist nach dem Ende der Filmserie leider auf der Rolle des „dicken Johnny“ hängengeblieben, tritt er doch noch heute auf Supermarkparkplätzen und Diskotheken als Stimmungssänger auf. Doch ohne „Eis am Stiel“ hätte er nicht einmal diesen zweifelhaften Ruhm, um sich so über Wasser zu halten. Jeder ist für sich und seine Entscheidungen selbst verantwortlich. „Eis am Stiel“ war ein Sprungbrett. Einige haben das genutzt, andere wiederrum nicht.
Ein krasses Schicksal ist das der Schauspielerin Sibylle Rauch.
Martin Hentschel: Wirklich traurig, wie manche Biografien verlaufen. Rauch hatte mit Guntram Vogl in der „Eis am Stiel“-Zeit einen „Gönner“ bei der Produktionsfirma „KF Kinofilm München“ von „Scotia“-Verleihchef Waynberg, der sie ständig in namenhaften Produktionen wie „Die Story“, „Das Wunder“ oder „Alphacity - Abgerechnet wird nachts“ besetzte. Persönliche und berufliche Fehlentscheidungen führten dann zu einem Abstieg über Pornofilme in Drogensucht und Prostitution. Schuld trägt da sicher nicht die „Eis am Stiel“-Reihe.
Foto: Verleih (Universum Film / MGM / Park Circus)

Wie beurteilen sie als Schauspieler und Filmemacher die „Eis am Stiel“-Serie aus qualitativer Sicht? Ist sie frivoler Einheitsbrei oder hat sie qualitativ etwas zu bieten?
Martin Hentschel: Der erste Teil war für den Golden Globe nominiert und sogar im Rennen um die Nominierung als bester fremdsprachiger Film bei den Oscars, da er ein ernstes Coming-of-Age-Drama von sehr hoher Qualität ist. Alleine die Kameraarbeit von Adam Greenberg (später Oscar für „Terminator 2“) ist meisterhaft. Aber auch die Schauspieler agieren realistisch und authentisch. „Eis am Stiel“ ist eine Milieustudie über Tel-Aviv und Israel in den frühen 60er Jahren. Die ganze Geschichte basiert auf Jugenderlebnissen des Regisseurs Boaz Davidson. Deshalb drehte man an Originalschauplätzen. Die Reihe verwässerte mit den Jahren immer mehr, weil der deutsche Ko-Produzent Sam Waynberg („Scotia Film“) den Sex- und Klamaukanteil stets für den Erfolg erhöhte. Trotz dieser Tatsache waren die Filme immer handwerklich gut produziert und darstellerisch ganz oben. 
Ein Erfolgsgarant war auch der Soundtrack, der perfekt zum Rock’n Roll-Revival der 80er Jahre passte und viele damalige Jugendliche erst mit den Hits der 50er und 60er in Kontakt brachte. Warum passt dieser Sound so perfekt zur Handlung der „Eis am Stiel“-Filme?
Foto: Verleih (Universum Film / MGM / Park Circus)

Martin Hentschel: Regisseur Boaz Davidson machte sich bei dem ersten Teil keine Gedanken um Musiklizenzen. Er hatte einen Stapel alter 45-er Single-Platten seiner Schwester und legte einfach die Musik an die Filmszenen an. In der israelischen Fassung von Teil 1 ist deshalb ein komplett anderer Soundtrack zu hören, als in der Exportfassung. Dennoch war die Lizensierung von fast 30 Musiktiteln zu damaliger Zeit sehr unüblich und natürlich auch teuer. Vorbild war hier „American Graffiti“ von George Lucas. Bei den Folgeteilen hatte man genug Geld und konnte aus dem Vollen schöpfen. Leider nicht immer ganz treffsicher: Teil 7 besitzt zum Beispiel einen völlig unpassenden 70er-Jahre Synthesizer-Soundtrack. In Teil 8 erklingen zudem teilweise Opern. In meinem Buch gehe ich auf die Musik sehr ausführlich ein: Welches Lied wurde in welcher Szene und in welcher Fassung gespielt?
Wurde nun alles gesagt und aufgedeckt oder können wir uns in 10 Jahren (zum 50. Geburtstag der „Eis am Stiel“-Reihe) auf weitere Enthüllungen von ihnen freuen?
Als Journalist bin ich natürlich ständig bestrebt Dinge weiterzuverfolgen und auch als „Fan“ wird mich die Serie wahrscheinlich mein ganzes Leben begleiten. Um die Frage zu beantworten: Ja, ich stehe in Kontakt zu einigen verschollen geglaubten Darstellerinnen und Darstellern. Was die noch zu erzählen hätten, dürfte wahrscheinlich für ein zweites „Eis am Stiel“-Sachbuch reichen. Seid gespannt…
Das Buch „Zitroneneis, Sex & Rock‘n‘Roll: Die deutsch-israelische Filmreihe ,Eis am Stiel‘ (1978-1988)“ von Martin Hentschel (ISBN: 1539578720) gibt es bei Amazon. Hier könnt ihr es bestellen!